Von Walhalla zu Hel und zurück

Eine Reise durch die neun Weltern der Wikinger auf der Suche nach den Göttern, Helden und Tieren im Mittelpunkt ihrer Mythen und Magie

"Vieh stirbt, Angehörige sterben, du selbst stirbst; ich kenne nur eines, das niemals stirbt: Die Beurteilung des Lebens eines toten Menschen."

Aus dem Havamal, einem Wikinger-Gedicht

Falls es jemals eine Kultur gab, die blühte und eroberte, aber letzten Endes unter den Wellen der Geschichte versank, während sie von göttlichen Oberherren dominiert wurde, dann war es die Kultur der Wikinger. Dieses skandinavische Volk germanischer

Abstammung, das im Gebiet des heutigen Dänemarks, Norwegens und Schwedens

lebte, entwickelte die ausgeprägte Wikingerkultur, deren Blütezeit zwischen dem 9. Und 11. Jahrhundert lag. In ihren gefürchteten Langschiffen mit dem

schwungvollen Bug waren sie in riesigen Teilen der nördlichen Hemisphäre - so

im heutigen England. Irland, Frankreich, Russland, Island und Grönland - und

plünderten, trieben Handel und etablierten Kolonien.

 

Entdeckungen in den letzten 50 Jahren haben auch bewiesen, dass sie fast 500 Jahre vor Kolumbus Nordamerika erreichten und Siedlungen in Neufundland in Kanada gründeten.

Und obwohl wir sie heute hauptsächlich als wilde Krieger kennen, waren sie auch Bauern, Handwerker, Händler und furchtlose Erforscher. Es war eine höchst geordnete Zivilisation, die Adelige (Jarle), freie Menschen (Karle) und Sklaven (Thralle) umfasste. Die Wikingerkultur kann auch rechtmäßig Anspruch darauf erheben, das älteste Parlament der Welt

geschaffen zu haben. Es wurde im Jahre 930 etabliert. Tief mit der Gesellschaft

der Wikingerlande war auch eine spirituelle Tradition unter dem Präsidium einer

großen Schar von Göttern verflochten. Ähnlich wie bei der Ilias und der Odyssee

und anderen ausgedehnten Geschichten von griechischen Göttern und Helden gab es

auch bei den Wikingern Sagen, die von beängstigenden Abenteuern erzählten, die

den Abenteuern von Odysseus in nichts nachstanden. Die Wikinger hinterließen in

diesen Sagen eine reiche Fundgrube von Heldentaten ihrer Götter, Halbgötter,

Könige, Bürger und Krieger. Diese Geschichten, die im Allgemeinen von anonymen

isländischen Autoren verfasst wurden, erfassen das Wesen der Legenden, des

Lebens und des metaphysischen Universums der Wikinger.

Navigieren durch die neun Welten

Im Mittelpunkt des nordischen Glaubenssystems stand ein kompliziertes Universum, das aus drei Reichen bestand, die neun Welten enthielten. Bewohnt wurden sie von Wesen, die sich von göttlichen Wesen wie den Walküren, die sich auf Schlachtfelder stürzten, um gefallene Helden zu holen - bis hin zu einer teilweise verfaulten Göttin namens Hel erstreckte, die

über höllische Bereiche, regierte, die als Helheim bekannt waren. In diesen

Bereichen lebten gequälte Seelen. An der Spitze des Universums war Asgard, die

Heimat der Aesir. Dies war das schillernde Reich der Götter der Künste, der

natürlichen Elemente wie Jahreszeiten, Meer und Donner, der Liebe und

Fruchtbarkeit, des Krieges, der Beredsamkeit, der Schönheit und sogar der

menschlichen Wechselwirkungen.

In der Mitte, im Wesentlichen zwischen Himmel und Hölle, befand sich Midgard, das Reich der Menschen. Im nordischen Mythos war Midgard eine Verteidigungsfestung. die die Götter um den mittleren Teil der Erde bauten, die den Menschen zugeteilt wurde, um die Menschen vor Feinden wie etwa den Frostriesen zu schützen. Im Rahmen dieser Welten gab es auch eine tiefe Erforschung des Jenseits und der Auswirkungen dessen, wie man lebte, während man in menschlicher Form war. Zum Beispiel gab es das glorreiche Walhalla für Helden, die im Kampf gefallen waren, und das gequälte Helheim für Seelen, die weniger Glück hatten.

 

Wie in anderen alten Kulturen gab es einen durchsichtigen Schleier zwischen diesen Welten, der von Menschen, Göttern, Tieren und Verstorbenen durchschritten werden konnte, um Bündnisse abzuschließen, zu kämpfen und sogar zu heiraten.

 

Eine Methode, wie Menschen mit diesen anderen Bereichen kommunizierten, waren die nordischen Runen. Diese alten Symbole waren ein phonetisches Alphabet, das für alle Arten von Kommunikation verwendet werden konnte, einschließlich der Kommunikation mit

unsichtbaren Welten.

In einer Version der Sage ihres Ursprungs wurden diese magischen Symbole aus der Unterwelt gebracht, als der Gott Odin sich auf Yggdrasil, dem heiligen "Weltbaum", selbst opferte.

 

Ein Beweis dafür, dass im Wikinger ­Universum nichts einfach und unkompliziert war, ist, dass Odin ein Gott des Krieges und des Todes war, aber ebenfalls der Gott der Poesie und Weisheit. Es ist interessant zu erwähnen, dass - als Vorläufer des Christentums in den nordischen Landen - Odin gemäß der Wikingertradition neun Tage lang durchbohrt von seinem eigenen Speer auf Yggdrasil hing, was Vergleiche mit Christus am Kreuz veranlasst hat. Dort lernte Odin neun machtvolle Lieder und die nordischen Runen. Odin kann auch die Toten sprechen lassen, um von den weisesten unter ihnen Fragen beantwortet zu erhalten, und er beobachtet von seinem Thron aus alles, was in den neun Welten geschieht.

Der "Allvater Odin". Von seinem Thron im göttlichen Königreich Asgard aus regierte er alle neun Welten
Der "Allvater Odin". Von seinem Thron im göttlichen Königreich Asgard aus regierte er alle neun Welten

Übernatürliche Kämpfe

Wie auch in Sagen und Mythen anderer

Völker, von Indianern bis hin zu Bewohnern polynesischer Inseln, gibt es einen listenreichen Gott. Die Wikinger-Version ist Loki, ein intriganter Opportunist, der bereit ist, die Schwächen oder Leichtgläubigkeit von Menschen und Göttern auszunutzen. Dann gab es Thor, den Gott des Donners, möglicherweise der bekannteste aller Wikinger-Gottheiten, was ihn zum Star heutiger Filme gemacht hat. Er war der Sohn von Odin und der Verursacher der Blitze und des Donners, wenn er in seiner Bronzekutsche über den Himmel klapperte; und sein berühmter Hammer bereitete vielen Frostriesen ein Ende. Und obwohl er ein mächtiger Kriegergott

war und für seinen Zorn bekannt war, machten ihn die Wikinger­Kolonisten, die aus Norwegen nach Island auswanderten, zu ihrem Hauptgott. Sie wählten ihn, und nicht den blutbefleckten Odin, wegen ihrer Desillusionierung mit Krieg und wegen Thors Ruf der Ehrlichkeit und harten Arbeit, einem starken Symbol für Bauern.

Immer wieder zeigen die Sagen und andere Geschichten und Mythen, dass die Wikingergötter trotz

aller ihrer Macht oft von ihren eigenen, manchmal dunklen und böswilligen Beweggründen genötigt waren, Verwüstungen anzurichten oder unter sich und Menschen gegenüber zum "Berserker" (ein Wikingerwort für blindwütige Krieger) zu werden. Das auffälligste Beispiel war die Wikingerversion von Arrnageddon, dem Weltuntergang, dem Zeitpunkt der Abrechnung mit der Welt, der als Ragnarök (Götterdämmerung) oder "Schicksal der Götter" bekannt

ist. In diesem erschreckenden Szenario werden Sonne und Mond verschlungen, und zwischen den Riesen und Tieren auf der

einen Seite und den Göttern verbündet mit den auferstandenen Helden aus Walhalla auf der anderen Seite findet ein großer Kampf statt. Verschiedene Kämpfe gehen mit der Heftigkeit von Feuer und Erdbeben hin und

her und bilden so einen ebenso brutalen Hintergrund. Niemand wird in diesem großen

Kampfverschont, da selbst Götter wie Odin und Thor von gewaltigen Feinden niedergeschlagen

werden ­darunter ein gewaltiger Wolf und eine riesige, sich windende Schlange - und die Erde zerstört wird.

Aber es gibt einen Nachtrag zu der Geschichte, der sich gut für einen Hollywood - Sommer- Blockbuster eignen würde. Es wurde vorhergesagt, dass, nachdem die wütenden Schlachten und Qualen die Welt in Trümmern zurückgelassen haben würden, eine neue Welt "aus dem Wasser steigen werde, schön und grün". Es werde zwei menschliche Überlebende, Lif und Lifthrasir geben, die in dem heiligen Baum Yggdrasil Zuflucht gesucht hatten und nun die Erde wieder bevölkern würden. Sogar einige Götter würden wiedergeboren werden, einschließlich der Söhne von Odin und Thor.

Ragnarök fand für die Wikinger nie statt. Aber eine neue Religion entstand in den nordischen Ländern, die eine andere Art der Wiedergeburt versprach, und im 12. Jahrhundert war Skandinavien vorwiegend christlich. Die Wikinger erlebten Niederlagen gegen die Könige

Großbritanniens und wurden in die Britischen Inseln und andere Regionen einverleibt. Und so verlor sich der nomadische Lebensstil der Wikingerkultur im Nebel der Geschichte.

Doch diese fast mythische Kultur der schnellen Langboote und der starken Schwerter, die Götter von ebenso heroischer Statur heraufbeschwor, ist nicht vollständig aus dem gegenwärtigen Leben verschwunden - bei Weitem nicht. Natürlich gibt es die Filme und Shows, aber auch zollen Englischsprachige fast jeden Tag den nordischen Göttern Tribut. Genauer gesagt: Sie ehren sie, wenn sie die englischen Namen der Wochentage aussprechen: Tuesday (Dienstag, Tyrs Tag), Wednesday (Mittwoch, Wodans oder Odins Tag), Thursday (Donnerstag, Thors Tag) und Friday (Freitag, Freyas Tag). Moderne Menschen mögen also glauben, dass diese Götter auf das historische Abstellgleis verbannt wurden, aber ihre Namen bleiben auf diese Weise unter Englischsprachigen in aller Munde.

 

Doch als eine Quelle der persönlichen spirituellen Freiheit und des spirituellen Wachstums versagte der Weg der Wikinger letztlich, da andere Glaubenssysteme seinen Platz einnahmen. Was er bot - im Wesentlichen ein spirituelles Kastensystem, in dem nur die Götter und die im Kampf getöteten Krieger hoffen konnten, in die höchsten Bereiche aufzusteigen, ließ gewöhnliche Sterbliche mit nur schwachen Hoffnungen für ihre Ewigkeit zurück.

Quelle: Advance! Magazin 49. Jahrgang,. Ausgabe 3